EMI Catalogue Marketing, Köln, kramte dieser Tage mal wieder zwei lange verschollene, einstige VHS-Videos aus den besten Tagen der schottischen Artrock-Legende Marillion – mal mit Frontmann „Fish“, mal mit seinem Nachfolger Steve Hogarth am Mikrophon – hervor, die „digital remastered“ nun erstmals auf DVD vorliegen.
Da wäre zunächst „Live from Loreley“, der Mitschnitt eines vollständigen Auftritts der Band vom 18. Juli 1987, die seinerzeit auf einer Woge des Erfolges schwamm. Zwei Jahre zuvor hatte ihr noch heute hochangesehenes Album „Misplaced Childhood“ und vor allem die Singleauskoppelung „Kayleigh“ – eines der, wie Experten, Fans und Rezensent unisono behaupten, schönsten Liebeslieder der 80er Jahre – dem Quintett aus dem britischen Buckinghamshire ermöglicht, ihren durch unermüdliches Touren und enorme Mundpropaganda erreichten Status eines Spezialisten-Tips endgültig hinter sich zu lassen und zu einem bedeutsamen Thema für die Hitparaden fast überall auf der Welt zu werden. Kurz vor den Sommerferien 1987 sollte der langersehnte und mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte Nachfolger des Hitalbums „Misplaced Childhood“ erscheinen. Die ungewohnt rockige Vorab-Single „Incommunicado“ hatte bereits Appetit darauf gemacht – und genau in dieser Spannungsphase, kurz vor Veröffentlichung ihrer 87er-LP „Clutching at Straws“, konzertierten Marillion vor mehreren Zehntausend begeisterten Fans am Loreley-Felsen in St. Goarshausen. Ein lauer Frühsommerabend hatte besonders Beinhart-Fans, zumeist bunt geschminkt und mit Fantasy-Anzügen bekleidet, an den Rhein gelockt, die es kaum erwarten konnten, bis ihre Helden bei Anbruch der Dunkelheit endlich auf die Bühne stürmten. Von dieser Stimmung legt „Live from Loreley“ perfekt Zeugnis ab.
Rund eineinhalb Stunden lang präsentierten Frontmann Derek William Dick, besser bekannt als „Fish“, und seine Begleiter ein buntes Programm, dessen Hauptanteil natürlich die zuvor noch niemals in Deutschland „live“ aufgeführten Songs von „Clutching at Straws“ ausmachten. Sieben von elf Stücken des wie auch der berühmte 85er-Vorgänger von Chris Kimsey produzierten Artrock-Meisterstücks – darunter die später durchaus erfolgreichen Singles „Sugar Mice“, „Warm Wet Circles“ und, nicht zu vergessen, die hymnische Beschreibung des Blackouts nach zu viel Alkohol, „Incommunicado“ – wurden detailgetreu, aber teilweise kraftvoller und roher klingend auf die große Bühne direkt am Loreley-Felsen übertragen. Frontmann „Fish“ beherrschte die Show, tanzte in den wildesten Kostümierungen – die teils nach „Alice im Wunderland“ aussahen, manchmal aber auch nur wie ein überdimensionaler Bademantel – zwischen seinen Begleitern hin und her, flirtete in überzeichnet gebrochenem Deutsch mit seinen Fans und begeisterte wie eh und je mit Charisma, grobschlächtigem Charme und voller Stimme. Keyboarder Mark Kelly, Hauptkomponist der meisten Marillion-Hits, arbeitete standhaft hinter seinen Türmen aus Tasten und Synthis; Bassist Peter Trewavas durfte ab und zu sogar die Harmoniegesänge übernehmen, Schlagzeuger Ian Mosley hämmerte punktgenau den Beat, während Gitarrist Steve Rothery seinem Instrument gedankenversunken, aber stets prägnant und konzentriert, die wildesten Töne entlockte. Etwas deplaziert wirkt hingegen die Chorsängerin Cori Josias, deren Hauptaufgabe offenbar darin bestand, immerzu zu lächeln, ein bißchen herumzuhüpfen und bei den Refrains laut „Ei äääm undää Asssssssasssssssing“ oder „Incommuniiicaddoooooo“ zu brüllen. Schon etwas befremdlich, dass in den 80ern sogar eine gestandene Rockband wie Marillion nicht auf schnieke Background-Miezen verzichten wollte...
Nach den etwas langatmigen, über achtminütigen Frühwerken „Script for a Jester’s Tear“ und „Incubus“ bzw. dem bedrohlich anmutenden, an Genesis’ „Abacab“ angelehnten Hardrockdrama „Assassing`“ im ersten Viertel der Show und den für Marillion-Verhältnisse sehr kompakten und kurzen Kabinettstückchen von „Clutching at Straws“, zelebrierte die perfekt aufeinander eingestimmte Band während der zweiten Hälfte ihres Auftritts endlich die wichtigsten Parts des „Misplaced Childhood“-Albums: Von der vertrackten „Bitter Suite“ bis zu den unumgänglichen Singleknallern „Lavender“, „Heart of Lothian“ und natürlich „Kayleigh“, jenem perfekten Liebeslied, das „Fish“ Gerüchten zu Folge eines schönen Abends in der Badewanne eingefallen war. Das Publikum jubelte; Fans und Band heizten sich gegenseitig an – für beide dürfte die Nacht des 18. Juli 1987 ein unvergeßliches Erlebnis gewesen sein, das die damaligen „Tatzeugen“ nun genauso wie alle anderen Marillion-Freaks, aber auch die Freunde guter, handgemachter, wenn auch manchmal etwas pathetisch-verschnickter Rockklänge in bester Ton- wie Bildqualität nochmals nachempfinden können. (Gesamtnote:2)
„Clutching at Straws“ war die letzte Studio-LP, die Marillion mit „Fish“ als Frontmann veröffentlichten. Kaum ein Jahr, nachdem das Album ein weiterer weltweiter Top-5-Erfolg geworden war, erklärte der schottische Ex-Holzfäller seinen Ausstieg. Er startete 1990 mit der gediegenen Artrockscheibe „Vigil in a Wilderness of Mirrors“ eine zeitweilig sehr ergiebige und kreative Solokarriere, während die Restband in dem quirligen Ästheten Steve Hogarth, zuvor Sänger der niemals über den Insiderstatus hinausgekommenen New-Wave-Band The Europeans, einen ebenso stimmgewaltigen wie lyrisch begabten Nachfolger für „Fish“ fand. Nach dem epischen Comebackalbum „The Season ends“ (1989) und der fulminanten Ohrwurm-Sammlung „Holidays in Eden“ (1991), hatte sich Hogarth in seiner Funktion als Cheftexter bei Marillion für Post-Fish-Album Numero Drei etwas ganz besonderes einfallen lassen. Eines Tages hörte er im örtlichen Radio eine Suchmeldung der Polizei. Eine junge Frau sei auf der Severn-Bridge, einer Autobahnhängebrücke zwischen England und Wales, in geistig verwirrtem Zustand aufgegriffen worden. Tagelang habe man sie daraufhin auf dem Polizeirevier zu Bristol verhört und sie gefragt, wer sie sei, woher sie komme. Doch das Mädchen sagte kein Wort, so dass man die Bevölkerung um Mithilfe betreffs ihrer Identifikation bat. Kaum hatte Hogarth den Radioaufruf vernommen, fühlte er sich sogleich als Texter inspiriert und nutzte diese wahre Geschichte für eine fiktive Handlung, in der er die Gründe für das Verhalten der Frau und ihre Vorgeschichte eruieren wollte. Daraus entstand das Anfang 1994 veröffentlichte, elfteilige Konzeptalbum „Brave“, auf dem Marillion in üblicher musikalischer Manier zwischen vertracktem, ausschweifenden Progressive Rock, hochemotionalen Balladen und eingängigen, durchaus harten US-Rock-Klängen die von Hogarth nach geschilderter wahrer Begebenheit erdachte Geschichte musikalisch aufführten. Als sich Album und dazugehörige Tournee als sehr erfolgreich erwiesen hatten, beauftragte man den zuvor eher im Horror-Genre aufgefallenen Kultregisseur Richard Stanley, diesen Plot zu verfilmen. So entstand 1994/95 ein künstlerisch durchaus wertvoller, übergroßer, rund einstündiger Videoclip, den der „Düsseldorfer Expreß“ als „erste große Rockoper der 90er Jahre“ bezeichnete. Der Film „Brave“ liegt nun, inklusive interessanter Interviewsequenzen mit allen Marillion-Musikern und Regisseur Stanley sowie verschiedener Eindrücke von der Studioarbeit, ebenfalls auf DVD (EMI – FSK: ab 16) vor. Kurzum: musikalisch ist an den „Brave“-Songs auch zehn Jahre danach nichts auszusetzen. Was „Fish“ an überbordendem Charisma besaß, gleicht Hogarth mit der Eindringlichkeit, Überzeugungskraft und Feingliedrigkeit seines Gesangs aus. Kompositorisch sind die teils ausufernden, alles andere als Hitsingle-kompatiblen Songs – wie zumeist bei Marillion – Güteklasse A. Die filmische Umsetzung des zugegebenermaßen interessanten und vielschichtigen Themas jedoch setzt hauptsächlich auf Effekthascherei – bunte, grelle Bilder von Schein- und Nebenwelten, Freaks und hohlen Maskenmännern („The Hollow Man“), leichte Horrorsequenzen und die Schilderung von Stimmungen und Eindrücken scheinen wesentlich wichtiger gewesen zu sein als der Inhalt. Faszinierend dagegen das gelungene Vorhaben des Regisseurs, typisch britische, leicht düster-melancholische Momente mit der Kamera einzufangen. Ob die brodelnde Hoffnungslosigkeit der 90er-Jahre-Vorstadtjugend, die schaurig-schöne Tristesse von Dunst und Smog verhangener Industriestädte oder schnöde Hausbesetzer-Romantik: All dies setzt Stanley, untermalt von Marillions gänsehauterzeugenden Songdramen, perfekt ins Bild. Als Kunstwerk, als wahrgenommene Möglichkeit für einen Filmemacher, sich künstlerisch auszutoben und seiner Kreativität freien Lauf zu lassen, taugt „Brave“ allemal. Ansonsten wäre jedoch eine ernsthaftere, mehr am Plot ausgerichtete filmische Bearbeitung des Themas wesentlich sinnvoller gewesen. So bleibt die DVD „Brave“ nur etwas Feines für Marillion-Sammler und Freunde atmosphärischer Bilder – der traditionelle Rockfan hingegen sollte besser auf die gleichnamige, weiterhin im Handel erhältliche CD zurückgreifen!
(Gesamtnote – Musik: 2plus / Gesamtnote – Film: 3 – doch dies miteinander verbunden, ergibt leider nur eine gute Vier, sagen wir 4plus)
Holger Stürenburg, 19./20. August 2004)
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