Wer sich in Deutschland ernsthaft für das Thema Film interessiert und dabei auch eine Affinität für den abseitigen/unterschlagenen Film hat, ist mit Sicherheit schon wiederholt auf den Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger gestoßen, sei es durch eines seiner zahlreichen Bücher als Autor (unter anderem über Akira Kurosawa und Nazisploitation) oder Herausgeber (zum Beispiel über David Cronenberg, Dario Argento), sei es durch seine zahlreichen Audiokommentare auf DVD/Blu Ray-Veröffentlichungen. Auch als Musiker und Autor in Zeitschriften wie Splatting Image und Deadline kennt man ihn. Neben Christian Keßler ist er in der „Szene“ sicher einer der bekanntesten Filmgelehrten in Deutschland.
2016 ist nun sein neues Buch „Grenzkontakte – Exkursionen ins Abseits der Filmgeschichte“ erschienen, interessanterweise fast zeitgleich mit Kesslers neuem Buch „Das versteckte Kino“ im gleichen Martin Schmitz Verlag, das ein ähnliches Thema auf andere Art und Weise angeht. Ich vermute, beide Herren schätzen sich und die Arbeit des jeweils anderen und so ist es sehr interessant, das Thema „Ungewöhnliche/Vergessene Filme“ aus zwei verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
In „Grenzkontakte“ geht Stiglegger in vielfältiger Form auf Filme ein, die jeder auf seine Art etwas Besonderes haben. Mal sind es Werke, die bei ihrem Erscheinen etwas Neues geboten haben, die auf ihre Art extrem waren oder besondere Interpretationen zuließen. Dabei setzt sich der Autor keinerlei stilistische Grenzen. Von Mainstreamfilmen über Exploitation und Arthouse bis hin zu tiefen Underground und Trash findet man hier alles mögliche wieder, genau so, wie bei der Art, in der über den jeweiligen Film berichtet wird. Von der mehr oder weniger reinen Besprechung über die tiefer gehende Analyse und Interpretation bis hin zum Gespräch und sogar zum Nachruf ist alles zu finden und so wird das gut 230seitige Taschenbuch im besten Sinne zu einem Reader, den man nicht in einem Rutsch durchlesen muss, sondern immer mal wieder zur Hand nehmen kann, um ein oder zwei Kapitel zu lesen.
Marcus Stiglegger stellt Filme vor, die jeder Filminteressierte kennt (Dario Argentos „Suspiria“), die aus tiefem Kunst-Underground stammen (Jörg Buttgereits „Der Todesking“) oder als durchaus kritische Gewaltepen durchgehen („Das Wiegenlied vom Totschlag“). Dabei werden die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt. Bei „Der Nachtportier“ von Liliana Cavani wird es zum Beispiel sehr theoretisch und psychologisch. Da wird derart mit Theorien von Nietzsche und Freud um sich geworfen, dass man ohne ein paar Vorkenntnisse nicht alle Gedanken nachvollziehen kann. Das ist voller Fremdwörter, sehr trocken und nicht im eigentlichen Sinne unterhaltsam zu lesen, aber dennoch interessant. Bei „Das Wiegenlied vom Totschlag“, einem Western, der weit weg ist von der deutschen „Winnetou“-Romantik, geht Stiglegger intensiv und kritisch auf die Besiedlung Nordamerikas und die Unterdrückung der Ureinwohner ein, wobei auch klargestellt wird, dass der kritische Film geschichtlich sicher nicht korrekt und eher tendenziell ist.
Das Stück zu Mario Bava ist da eher traditionell gestaltet, es wird auf die Arbeit Bavas eingegangen, die Regeln des Giallo aufgeführt und Bavas Bedeutung für das Kino herausgearbeitet. Für einen kleinen deutschen Film wie „Kalt wie Eis“ wird aufgezeigt, dass er damals wie heute unterschätzt wurde, gibt er doch das Lebensgefühl der Früh-80er-Jugendlichen in der Mauerstadt Berlin gut wieder.
Über den Autor selbst erfährt man einiges in dem interessanten E-Mail-Gespräch mit Kai Naumann, tragisch aktuell ist der Nachruf auf den im Februar 2016 verstorbenen Regisseur Andrzej Zulawski, ein Kapitel, das sicher so nicht geplant war und spontan mit ins Buch aufgenommen wurde.
Dazu gibt es Artikel über Takeshi Kitano, Bruno Dumont, Abel Ferrara, Roland Topor, den „Mondo“-Film und vieles mehr. Wer die Arbeit von Marcus Stiglegger kennt weiß, dass er inhaltlich kompetent, aber auch meinungsstark schreibt und auch von der Masse abweichende Interpretationen präsentiert, wenn er davon überzeugt ist. Es ist auch bekannt, dass er manchmal sehr trocken-wissenschaftlich schreibt, hier beweist er aber auch immer wieder, dass er auch eine unterhaltsame Schreibe beherrscht – und sogar ganz wunderbare Wörter erfinden kann, wie „Abspannnennung“, dem wohl einzigen deutschen Wort, in dem sechsmal „n“, nur getrennt durch zwei kleine Vokale, hintereinander vorkommt.
Da verzeiht man auch kleinere Unebenheiten wie den Lektoratsfehler, dass „Alien“ nicht „mehr als zwei Jahrzehnte“ nach Bavas „Planet der Vampire“ von diesem beeinflusst wurde, sondern gerade mal 14 Jahre oder dass der Autor immer „Giallo-Thriller“ schreibt statt einfach nur „Giallo“, was zwar formal nicht falsch ist, aber etwas holperig klingt. Schlimm ist es auch nicht, dass der Text zu „Lisa und der Teufel“ in Teilen wörtlich aus dem Booklet zur älteren DVD-Veröffentlichung des Films zweitverwertet wurde. Ohne es jetzt belegen zu können, kann man wohl vermuten, dass es an anderen Stellen in „Grenzkontakte“ ähnlich gehandhabt wurde. Aber es ist auch durchaus legitim, dass ein Autor seine eigenen Texte mehrfach benutzt, wenn sie einmal auf den Punkt gekommen sind und eine gewisse Zeitspanne dazwischen liegt.
Zusammengefasst kann man zweifellos sagen, dass „Grenzkontakte – Exkursionen ins Abseits der Filmgeschichte“ genau das bietet, was der Titel verspricht und selbst gut informierte Filmliebhaber hier noch einiges Neues entdecken können. Die Struktur des Buches ermöglicht es zudem, es immer wieder zur Hand zu nehmen, beispielsweise, wenn man gerade einen der Filme geguckt hat, um sich weitere Informationen dazu zu holen. (A.P.)
|