Liebhabern von Genrefilmen abseits des Mainstreams den Filmgelehrten CHRISTIAN KESSLER noch groß vorzustellen, dürfte überflüssig sein. Seit nunmehr Jahrzehnten schreibt er Bücher und Artikel zum Thema Film, nimmt Audiokommentare für DVD/Blu Ray-Veröffentlichungen auf oder füllt deren Booklets mit Wissenswertem, ist inzwischen fachlicher „Begleiter“ einer Reihe von Filmen bei Sky, hält Vorträge und und und. Seit Mitte der 90er Jahre hat er zahlreiche Filmbücher geschrieben über den Regisseur Jess Franco, italienische Horrorfilme, Italo Western und amerikanische Pornofilme, sowie zuletzt drei Taschenbücher mit der Vorstellung von „vergessenen“ Film-Schätzen und Trashfilmen. Zudem hat er zwei (mir bisher nicht bekannte) Kriminalromane geschrieben.
Mit „Endstation Gänsehaut“ findet er den Weg zurück zum Thema Horrorfilm und hat sich diesmal gleich vorgenommen, einen subjektiven Streifzug - Vollständigkeit dürfte unmöglich sein - durch das gesamte Genre zu machen. In der Aufmachung befindet sich der rund 400 Seiten starke Band in guter Gesellschaft mit „Die Läufige Leinwand“, also Hardcover im mittelgroßen Format und schlichte aber schicke Gestaltung. Es geht los mit einem kurz gehaltenen Vorwort, in dem schon angedeutet wird, dass es hier nicht um Vollständigkeit oder kanonische Einordnung der Filme, sondern um eine persönliche Sichtweise auf das Genre geht. Dies kann man durchaus als eine Art „Warnung“ ansehen, denn jede Leserin und jeder Leser wird immer wieder aufschreien, dass „wichtige“ Filme fehlen oder nur in Nebensätzen erwähnt werden. Keßler sagt aber von vorneherein, dass er hier kein Nerd-Buch abliefert, sondern einfach einen unterhaltsamen Überblick geben will.
Wer schon mal etwas von Keßler gelesen hat, weiß, dass die Unterhaltung und die harten Fakten bei ihm immer in einem guten Gleichgewicht stehen und man unbedingt viel Spaß beim Lesen hat, inklusive überraschender Wortneuschöpfungen. Anekdotenreich und sehr persönlich, aber nie langweilig, nimmt der Autor den Leser mit auf eine Reise, bei der dieser oder diese viel Neues erfährt, vergessen geglaubte Fakten wieder ins Gedächtnis gerufen bekommt und viele skurrile Details plötzlich völlig neu bewertet werden.
Dabei hat Christian Keßler nicht die vielleicht zunächst naheliegende Form der chronologischen Abhandlung gewählt, sondern das Thema nach den gängigsten Subgenres sortiert und kapitelweise die wichtigsten, besten oder auch überraschendsten Werke beschrieben. Hier und da denkt man, dass ein Film vielleicht genauso gut in ein anderes Kapitel passen würde, aber hey...hier geht es um Spaß beim Lesen, da sind kleine Unstimmigkeiten nun wirklich kein Problem.
Die Grundtypen des Horrorfilms hat Stephen King bereits 1981 in seinem Sachbuch „Danse Macabre“ beschreiben...den Vampir, den Werwolf, den verrückten Wissenschaftler, das „Ding aus dem Sumpf“ (wenn ich mich einigermaßen richtig erinnere), und dargelegt, dass fast alle Gruselgeschichten auf diese Archetypen zurückgeführt werden können oder Kombinationen aus ihnen sind - so ist „Jekyll & Hyde“ eine Kombination aus Werwolf- und Verückter Wissenschaftler-Motiven. Keßler fasst das etwas weiter und natürlich auf das Medium Film übetragen...so gibt es Kapitel zu Geisterfilmen - besonders ausführlich -, Vampire, Werwölfe, Mumien - recht kurz und knackig, da die Story-Variationen da sehr überschaubar sind -, Zombies - hier wird die aktuelle Entwicklung der vergangenen Jahre weitgehend außen vor gelassen -, Hexen/Religion, verrückte Wissenschaftler und natürlich die „irren Killer“. Ein eigenes Kapitel zum Ausklang des Buches erhält „Freaks“, ein Film, der sich nur schwer einem Genre zuordnen lässt, für eine ganz eigene (Zensur-) Geschichte steht und einen Platz tief im Herzen von Keßler hat.
Innerhalb der Kapitel werden natürlich alle wichtigen Klassiker chronologisch mal mehr, mal weniger ausführlich gewürdigt. Da fehlen nur wenige Filme, die allgemein zu den „Klassikern“ gehören. Viel interessanter sind aber die zahlreichen Hinweise auf vergessene oder kleinere Filme, gerne auch aus den nicht üblichen Filmländern. Es ist immer wieder erstaunlich, was in inzwischen weit mehr als 100 Jahren Filmgeschichte weltweit so auf die Zuschauer losgelassen wurde.
Christian Keßlers Schreibstil ist leicht und schnell lesbar, sprachlich dabei aber immer gekonnt und pointiert, wobei ich diesmal das Gefühl habe, maches Wortspiel ist ein bisschen zu gewollt, weil er vielleicht dachte, die Leser erwarten das von ihm. Kritik an einem Buch von Keßler? Nur minimalst und auch nur, weil ich immer dazu neige, auch den kleinsten Kritikpunkt auszugraben. Nein, man kann „Endstation Gänsehaut“ mit großer Freude zügig lesen, erfährt auch als jahrzehntelanger Film-Freak noch jede Menge Neues und hat Zettel und Stift immer griffbereit, um sich zu notieren, welche Filme man dringend mal wieder oder erstmals gucken muss.
Bebildert ist „Endstation Gänsehaut“ mit hunderten farbigen Abbildungen von Filmplakaten, oft international, so dass auch der extremste Sammler sicher noch einiges entdeckt, was er noch nicht kennt, ergänzt durch einen Filmindex zur Suche von bestimmten Filmen. „Endstation Gänsehaut“ ist kein Nachschlagewerk, wer ausführliche Filmbesprechungen mit Analysen und Credit-Auflistungen erwartet, ist hier eindeutig falsch aufgehoben. Das Buch ist ein „Reader“, der in erster Linie unterhält und ganz „nebenbei“ noch eine Menge Informationen einstreut. Wer den Stil von Christian Keßler mag - wie ich seit vielenvielenvielen Jahren -, wird auch hier begeistert zugreifen. Keßlers ambitioniertestes Werk wird aber vermutlich das nächste Buch sein, in dem es um das Thema „Giallo“ gehen soll...und das diesmal auf Vollständigkeit bedacht. Man darf gespannt sein und bis dahin „Endstation Gänsehaut“ immer mal wieder zur Hand nehmen, um einfach ein bisschen zu schmökern. (A.P.)
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