Wollte man sich bisher über die Geschichte der englischen Punk-Explosion informieren, waren Jon Savages „England’s Dreaming“ und George Gimarcs „Punk Diary 1970-1979“, sowie Bücher über einzelne Bands die Quellen, die man zu Rate ziehen konnte. „England’s Dreaming“ und „Punk Diary 1970-1979“ bleiben auch weiterhin die Standardwerke, zu denen sich aber mit John Robbs „Punk Rock“ ein drittes Pflichtwerk hinzugesellt. Die beiden erstgenannten Bücher erzählten die Geschichte mit einem Blickwinkel von außen (Savage), beziehungsweise anhand von nachprüfbaren Fakten (Gimarc). John Robb, seines Zeichens selber Musiker bei den Membranes, hat nun aber einen Doku-Roman geschaffen, der überwiegend aus Interviews mit fast allen wichtigen (und weniger wichtigen) Leuten der damaligen Zeit besteht. Klingt nach Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ über die deutsche Szene? Stimmt, exakt das gleiche Konzept gibt es hier auf über 500 Seiten zu lesen. Und das ist mehr als lesenswert, weil eben die Beteiligten selbst zu Wort kommen, wobei von nüchterner Rücksicht über sachliche Infos bis hin zu romantischer Verklärung fast alles an Sichtweisen vorhanden ist. Da aber zu jedem Thema mehrere Stellungnahmen eingeholt wurden, entsteht ein recht vielfältiges und letztlich wohl auch einigermaßen objektives Bild.
Und zu Wort kommen sie alle…Rat Scabies, John Lydon, Mick Jones, Steve Severin, Jah Wobble, Adrian Sherwood, Barney Sumner, Beki Bondage, Billy Bragg, Captain Sensible, Brian James, Colin Newman, Hugh Cornwell, TV Smith, Keith Levine, Tony James, Poly Sterene, Don Letts, Marco Pirroni und und und. Eigentlich fehlen nur die, die leider viel zu früh verstorben sind, einige wenige Musiker/innen und Malcolm McLaren, wobei zumindest die Sicht von McLaren sicher interessant und ein netter Kontrast gewesen wäre. Allerdings wäre da wohl nur schwer nachvollziehbar, was der Wahrheit entspräche.
Umfassend erfährt man, wie die einzelnen Leute durch die frühen 70er Jahre nach interessanter Musik gesucht haben, wie sich die Punkszene zunächst in London um die King’s Road und die Sex Pistols entwickelte, wie erste Bands gegründet wurden, erste Konzerte stattfanden, erste Platten veröffentlicht wurden und Ende 1976 und im ganzen Jahr 1977 die Szene explodierte, blitzschnell kommerzialisiert wurde und bereits 1978 in sich zusammenbrach und sich dann im Untergrund eine lebendige zweite Punk-Welle entwickelte, inklusive zahlreicher Sub-Genres von Ska-Punk bis Gothic.
Man erfährt, wie die Sex Pistols erste Gigs spielten, wie die erste Ramones Tour in England die Szene prägte, wie sich die Weg weisenden Gruppen wie The Clash, The Damned, Buzzcocks, The Stranglers oder The Adverts gründeten und durchsetzten und wie eine die 80er Jahre prägende Independent-Szene Form annahm. Es werden Blicke auf wichtige Punk-Metropolen wie Manchester und Liverpool geworfen, ebenso auf Nordirland und Schottland. Dabei steht ganz überwiegend die Musikszene im Mittelpunkt, künstlerisch multimedial wurde Punk erst später. Der Schwerpunkt liegt natürlich auf den Jahren 1976-1978, der Zeitraum ab 1979 bis 1984 wird relativ schnell abgehandelt, wobei dort Bands wie Crass und P.I.L. exemplarisch für die Phase stehen.
Man kann in so einer eher nüchternen Buchkritik kaum auf alle in „Punk Rock“ angesprochenen Details, Bands, Ereignisse und Personen eingehen, aber klar ist, dass hier wohl alles Wichtige zur Sprache kommt und das Buch deswegen bedingungslos zu empfehlen ist, nicht nur für Punk-Fans, sondern für musikgeschichtlich Interessierte im Allgemeinen, denn unbestreitbar ist wohl, wie auch immer man das Phänomen Punk sehen mag, dass die Musikwelt dadurch für immer verändert wurde.
Neben „dem Savage“, „dem Gimarc“ gibt es jetzt also auch „den Robb“. Wenn man diese drei Bücher gelesen hat und einige der wichtigen Platten kennt, darf man beim Thema Punk zumindest mitreden. Plichtlektüre! (A.P.)
Ventil Verlag ISBN 978-3-931555-76-4
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